
Schon in meinem ersten Artikel hier auf der Kulturachse habe ich darüber gejammert, dass viele Menschen – übrigens auch sehr viele kluge und/oder gebildete – die Ansicht vertreten, sich in der Geschichte auszukennen sei unnötig. „Das hat doch eh nichts mit mir zu tun“, könne man da hören. Dies sei vielleicht auch einer der Gründe, so habe ich in einem anderen Artikel gemutmaßt, warum ein Großteil der Bevölkerung nie in Museen gingen.
Kürzlich allerdings habe ich Umberto Ecos Im Wald der Fiktionen gelesen – eine Reihe von Vorlesungen über Erzähltheorie, die der berühmte italienische Semiotiker, Mediävist, Literaturtheoretiker und Schriftsteller Anfang der 1990er Jahre in Harvard hielt. Und darin fand ich ein Argument, dass mich zum Nachdenken anregte. Eco weist nach, dass fiktive Erzählungen uns gerade deswegen reizen, weil wir unser eigenes Leben narrativ strukturieren, also uns quasi selbst ‚die Geschichte unseres Lebens‘ erzählen, wenn wir uns selbst definieren wollen.
Wie passt das zusammen? Wir alle strukturieren unsere Weltwahrnehmung als Geschichte, aber mit der Geschichte der Welt, der Menschheitsgeschichte usw. wollen wir nichts zu tun haben? Als ich dann zufällig nur kurz danach noch einmal Ridley Scotts Kreuzzugs-Historienblockbuster Königreich der Himmel gesehen habe, bin ich vollends zu der Überzeugung gekommen, dass da doch was oberfaul ist. Immerhin hat dieser Film offensichtlich nicht nur einen mindestens zweistelligen Millionenbetrag Produktionskosten gebunden, er wurde auch von vielen Millionen Menschen gerne gesehen und von der Kritik auch leidlich gut angenommen. So einen Film gäbe es doch nicht, wenn bestimmte Episoden der Geschichte nicht auch für viele Menschen einen Reiz hätten? Und während ich noch gestaunt habe, dass die Schaupielriege des Films Darsteller:innen aus Der Herr der Ringe, Star Wars, Harry Potter, Star Trek, Game of Thrones und James Bond vereinigen konnte (da ist für Franchise-Nerds aller Couleur etwas dabei), ist mir aufgegangen, was vielleicht der springende Punkt ist, das ‚missing link‘, das diese scheinbar nicht zusammenpassenden Pole zusammenbringt.
Eco sagt, wir definierten unser Leben narrativ – dabei haben wir einen Protagonisten als Identifikationsfigur, uns selbst. Und auch Ridley Scott bietet uns im Jerusalem des 13. Jahrhunderts mit Orlando Bloom einen schneidigen Sympathieträger (auch wenn ich ihn als Elb und als Pirat überzeugender fand als in der Gestalt eines Kreuzritters). Wenn uns eine Geschichte also mitreißen will, muss es ‚menscheln‘. Fakten begeistern die wenigsten. Deswegen erinnern wir uns alle mit Grauen an das Auswendiglernen von Jahreszahlen im Geschichtsunterricht unserer Schulzeit („7-5-3 – Rom schlüpft aus dem Ei“). Wir brauchen jemanden, an dem wir uns festhalten können, der/die uns als Identifikationsfigur dienen kann. Das ist soweit keine neue Erkenntnis, denn das ist überall, wo es um Vermittlung geht, längt in der didaktischen Werkzeugkiste, aber meine spontane Erkenntnis, während Saladin Jerusalem erstürmte, war noch eine andere: Das Problem der Identifikation mit den Protagonist:innen der Weltgeschichte ist, dass wir ihr Handeln schlicht nicht nachvollziehen können. Wie kommen Menschen darauf, sich auf die Kreuzzüge zu begeben? Wieso kämpft im 30jährigen Krieg ganz Europa um Konfessionszugehörigkeiten? (Nicht Religionen, sondern Konfessionen – alle Beteiligten waren Christen!) Und selbst viel näher in der Geschichte: Wie kann quasi ein ganzes Volk sich an der systematischen Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe mitschuldig machen? Und wie kann der Rest der Welt einfach wegschauen? Und wie kann ein anderes – sich selbst als „erste Welt“ bezeichnendes Land – nicht nur eine Atombombe abwerfen, sondern ein paar Tage später, als die Ungeheuerlichkeit der ersten Bombe offenkundig war, noch eine zweite?!
Wenn ich gefragt werde, wieso Menschen anderer Epochen so völlig anders denken und handeln als wir, dann versuche ich, Zeit und Raum im besten Stil von Doctor Who und Co zu vertauschen: 10 Jahre in der Zeit zurück ist wie die Reise in ein anderes Land in der Nachbarschaft. Vieles ist gleich, aber einiges ist auch schon ganz anders – Straßenschilder, Essgewohnheiten usw.; 25 Jahre ist schon wie ein anderer Kontinent. Man findet sich zurecht, aber fremd fühlt man sich schon. 100 Jahre Zeitreise ist wie eine Reise auf einen anderen bewohnten Planeten. Da kapiert man fast nichts mehr, was die Leute umtreibt.
Wieso ist das so? Völlig logisch: Weil Werte, Normen, Denkmuster, ja das ganze Weltbild vom gesellschaftlichen Kontext abhängt. Ich vermute, kein:e Europäer:in der Gegenwart (egal, wie gläubig er/sie sein mag) kann die allumfassende Religiosität der Menschen in Mittelalter oder Früher Neuzeit wirklich nachvollziehen oder kann verstehen, wie man sich freudig in einen Krieg gegen die eigenen Nachbarn stürzen kann für einen „Platz an der Sonne“. Unsere Lebenswelt und unser Bewertungssystem ist eben völlig anders.
Aber haben dann nicht die recht, die sagen, es habe „nichts mit mir zu tun“? Das wiederum glaube ich trotzdem nicht! Denn woher kommt denn dieser Kontext, dieses Bewertungssystem? Es entsteht durch Weiterentwicklung und Abgrenzung von dem, was vorher war. Alles um uns herum ist die Konsequenz einer langen Entwicklung. Diese Geschichte zu kennen kann uns helfen, Sachverhalte und Zusammenhänge zu verstehen und bewerten zu können.
Damit ist meine schöne Weltraum-Metapher auch leider schon am Ende, denn die einzelnen ‚Planeten‘ und ‚Länder‘ sind eben nicht einzelne Episoden, die nebeneinander her bestehen, sondern sie bauen aufeinander auf! In der Fernsehwissenschaft gibt es für Serien den Unterschied zwischen serials und series. Bei den ersten startet jede Episode neu (bekanntestes Beispiel sind Die Simpsons – seit mehr als 30 Jahren sind Bart und Lisa Kinder geblieben), bei den anderen bauen die Episoden alle aufeinander auf und erzählen eine zusammenhängende Geschichte. Die Weltgeschichte ist eben eher eine ‚series‘, nur dass sie eben unendlich komplex und unübersichtlich ist und wir mitten drin stehen, statt nur zuzuschauen. Und um die Konfusion noch zu verstärken, verweise ich an dieser Stelle wieder auf einen weiteren Artikel dieser Kolumne, in dem es darum geht, dass letztendlich auch unser Geschichtsbild eine bestimmte Erzählung ist, die wir als gesellschaftlichen Konsens gewählt haben. Nur ich glaube, gerade deswegen ist es auch so wichtig, sich zumindest ab und zu mit historischen Themen zu befassen. Deshalb ist das oft als so langweilig verschriene Schulfach (Um nochmal auf Harry Potter zurückzukommen: Dort ist das Fach sogar so langweilig, dass der unterrichtende Lehrer im Dienst gestorben ist und als Gespenst weiterunterrichtet) eben nicht verlorene Lebenszeit und deshalb haben historische Museen eine wichtige gesellschaftliche Funktion.
In meinem letzten Artikel habe ich meine Sicht auf die Bedeutung von Kulturarbeit ausgebreitet, nun konnte ich auch noch meine Gedanken zur Wichtigkeit von Geschichte für unser Weltverständnis anschließen. Und während ich jetzt ganz stolz bin, wie hier so viele meiner Artikel hier logisch zusammenlaufen, kann ich zum Ziel meiner Überlegung kommen: Einerseits können wir vergangene Zeiten nicht ohne weiteres nachvollziehen, weil unsere Werte nur für jetzt, nicht für damals angelegt werden können. Andererseits gibt es diese Werte nur wegen dem, was vorher passiert ist. Diese Spuren liegen nur jetzt unter der Oberfläche. Vielleicht kann diese Erkenntnis ja auch im Austausch mit Menschen aus anderen Kulturräumen helfen – es kann etwas mehr Toleranz und Verständnis aufbringen, denn es zeigt uns, wie standortabhängig jeder unserer Standpunkte ist. Damit meine ich nicht, dass man für die eigenen Standpunkte nicht entschieden eintreten sollte, wenn es gegen Diskriminierung, Benachteiligung oder andere Übel geht – das sollte man tun! Aber wenn wir den eigenen Standpunkt für universell gültig erklären, wären wir nicht besser als die Kolonialherren vergangener Zeiten, die sich als ‚zivilisierter‘ einstuften – weil sie nur ihr Welt- und Geschichtsbild sehen konnten. Und wiederum hat uns die Geschichte der Welt schon gezeigt, wie viel Unheil aus so einer Haltung erwachsen kann. Halten wir die Augen also offen!
Flemming N. Feß
Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.

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