Schreibtischscharmützel II: Nasenhaare und Jabba the Hutt

von Flemming N. Feß und Gregor Greve

Schreibtsichscharmützel   Kultur und Leben

Die größten Erkenntnisse entstehen im Austausch miteinander, das wussten schon die alten Griechen. Zwar können unsere Autoren kein altgriechisch, aber diskutieren, das bekommen sie hin. Seit mehreren Jahren sitzen und arbeiten Flemming N. Feß und Gregor Greve Schreibtisch an Schreibtisch im kult Westmünsterland. Klar, dass dabei auch manchmal hitzig diskutiert wird. Mit den „Schreibtischscharmützeln“ lassen die beiden Sie, als Leser:innen, an einem virtuellen Bürogespräch teilhaben, dessen Ausgang – wie der vieler Bürogespräche – ungewiss ist.

Ihr Thema heute: Sehgewohnheiten im Wandel

Hallo Flemming! Es ist ja schon ein paar Tage her seit unserem ersten Gespräch hier in der Kulturachse. Heute würde ich gern einmal ein Thema ansprechen, das mich schon einige Zeit beschäftigt, welches allerdings seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Fernsehen erst so richtig „duchgeschlagen“ hat. Mittlerweile scheinen sich eine große Zahl der Zuschauer:innen überhaupt nicht mehr daran zu stören, dass in Nachrichten (oder Talkshows) Menschen in unvorteilhaften Einstellungen vor ihrem Rechner sitzend und In-ear Bluetooth-Kopfhörer tragend zu Wort kommen. Der Unterschied zu seriösen Aufnahmen aus der Zeit vor Corona ist so eklatant, dass dies doch eigentlich jedem sofort auffallen müsste und sich mir unweigerlich die Frage aufdrängt, in wieweit sich diese Kostenreduktion auf technischer Seite auf die inhaltliche Qualität des Programms auswirken könnte. Oder ist es so, dass ein Großteil der Zuschauer:innen durch anhaltende Zoom/Teams/etc.-Besprechungen schon so konditioniert ist, dass diese Sehgewohnheit wie selbstverständlich hingenommen wird?

Hallo Gregor, das ist eine spannende Beobachtung, ich habe das auch schon bemerkt. Ich glaube, mit deiner letzten Vermutung hast du recht. Wir alle haben durch Remote-Work und Co inzwischen eine neue Sehgewohnheit entwickelt. Ich höre (bzw. lese) heraus, dass du diese Entwicklung und die neue Bildsprache nicht gutheißt, kann das sein?

Nein, nein, keinesfalls. Ich habe diese Verschiebung der Bildsprache lediglich kritisch beobachtet. Diese kann man gut oder schlecht heißen, aber letzten Endes kommt es ja darauf an, wie sehr man bereit ist, sich neuen Trends und Konventionen zu öffnen. Wenn Menschen dazu nicht fähig wären, würden wir noch immer zu Laterna Magica-Vorführungen gehen (Bewegtbild wird sich einfach nicht durchsetzen ;-) ). Ich finde es lediglich bemerkenswert, dass es durch ständige Nutzung von Video-Konferenzen sehr schnell selbstverständlich wurde, diese auch für TV-Zwecke zu nutzen. Ganz nebenbei ist dies ja auch ein erheblicher Gewinn für die Sender (sowohl in der Aktualität als auch in den Produktionskosten).

Dann habe ich dich missgedeutet und du hast auch schon mein schön bereitgelegtes Argument selbst vorweggenommen. Ich glaube auch, Sehgewohnheiten sind ständig im Wechsel. Da können wir mit der „Erfindung“ der Zentralperspektive in der Malerei der Renaissance beginnen, aber wir können genauso an der Laterna Magica vorbei direkt mitten in die Filmgeschichte springen. Frühe Filme erscheinen uns heute seltsam starr – ich denke hier zum Beispiel an Georges Mélièz. Seine Filme wie Le Voyage dans la Lune erschienen den Zeitgenoss:innen als Meisterwerke der Trick- und Schnitttechnik. Wir finden die minutenlangen Totalen langsam. Mit der Schnittfrequenz heutiger Filme, die teils Dutzende von Schnitten in weniger als einer Minute haben, sodass sich für uns Zuschauer:innen Blickrichtung, Entfernung und relative Position zu dem Gezeigten ständig verändert, wären sie sicher völlig überfordert gewesen. Und natürlich entwickelt sich auch das Fernsehen ständig weiter. Denk mal an die Serien deiner Kindheit: die waren für kleine Bildschirme im 4:3-Format gemacht und zeigten fast nur Großeinstellungen. Heute, bei riesigen Fernsehern, können die Serien visuell eher wie Filme daherkommen. Lange Rede, kurzer Sinn: Sehgewohnheiten verändern sich fortwährend. Mir zum Beispiel ist auch etwas aufgefallen: In der Ästhetik vieler Youtube-Influencer:innen werden harte Schnitte verwendet, also nicht zusammenpassende Sequenzen so aneinander gehängt, dass der Zeitsprung nicht durch Zwischenbilder versteckt wird. Und diese Ästhetik – vor wenigen Jahren noch undenkbar und ein No Go, ein „Schnittfehler“ – findet nun auch vereinzelt Eingang in Film und Fernsehen.

Richtig, richtig. Wo wir gerade bei den frühen Meisterwerken sind: Einige Ungereimtheiten und Irritationen unserer Zeitgenoss:innen sind leider bei diesen auch technisch bedingt. Es ist immer wieder amüsant, wie sich viele Menschen über die schnellen Bewegungen und zeitrafferartigen Handlungen früher Filme amüsieren und dabei in keinster Weise aufgeklärt werden, dass damalige Filme mit 16 Bildern pro Sekunde aufgenommen wurden, diese heute aber im Fernsehen mit 25 Bildern pro Sekunde abgespielt werden … daher die schnellen lustigen Bewegungen. Die damaligen Zeitgenoss:innen betrachteten die Protagonist:innen also ebenso wie wir.

4:3? Ich weiß gar nicht, was an den schwarzen Streifen rechts und links auf deinem LED-TV so schlecht sein soll. Den meisten wird es eh nicht sehr auffallen, da es ja ebenfalls zu den geänderten Sehgewohnheiten gehört, hochkant gedrehte Videoclips zu konsumieren und bei diesen sind ja die „Seitenstreifen“ im Fernsehen noch viel breiter (wenn nicht ein kluger Cutter eine geblurrte Version des zu sehenden Videos synchron als Hintergrund einsetzt).

Schwarze Streifen? Ich gucke die alten Sachen einfach immer völlig verzerrt, sodass alle Gesichter latent aussehen wie Jabba the Hutt, dann habe ich die auch nicht … Ich glaube, hier haben wir nun zwei verschiedene Phänomene am Wickel: Die, bei denen tatsächlich ältere Medienerzeugnisse, bzw. könnte man auch ‚Kunstwerke‘ sagen, durch mangelnden sensiblen Umgang verhunzt werden, wie das falsche Bildformat einzustellen oder die Bildfrequenz nicht anzupassen und auf der anderen Seite die, bei denen neue Medien und Nutzungsformen die älteren verändern, wie die Hochformatvideos, die ja nun mal dadurch entstehen, dass man die Handys, mit denen sie aufgenommen werden, normalerweise hochkant hält, oder eben die  Nasenhaar-Close-ups der Videokonferenz-Interviews. Die erste Sorte finde ich bedenklich – das ist ja in etwa so, als würde man sagen „Der Teppich von Bayeux ist schon etwas sperrig, wenn wir den mal bei 60° ordentlich durchwaschen passt der hinterher auch in unsere Vitrine“ – das andere ist glaube ich einfach der Lauf der Zeit.

Teppich von Bayeux - schönes Beispiel. Du hast recht, es soll ja auch nicht zu einet Zivilisationskritik von einem älteren und einem alten Mann mutieren. Fakt ist doch, dass sich unsere Umwelt ständig verändert und wenn diese Veränderungen langsam und „nachhaltig“ vonstattengehen, werden sie gesellschaftlich akzeptiert. Ich ertappe mich auch häufiger dabei, dass mich ein Hochkant-Video überhaupt nicht stört. Was Jabba angeht, ist mir das immer noch lieber, als anamorphe 16:9 Filme in 4:3 (ohne Letterbox-Anpassung) sehen zu müssen. Dann mutieren nämlich alle Protagonisten zu Coneheads. Dieser Anblick ist dir ja aber glücklicherweise durch die Gnade der späten Geburt in großen Teilen erspart geblieben.

Aber da wir Beide nicht wissen, was der nächste technische Durchbruch bringen wird, schlage ich vor, dass wir uns da einfach überraschen lassen und einmal genau beobachten, wie die Gesellschaft darauf reagiert. Was meinst du?

Es tut mir natürlich weh, dass du mich jetzt als „älteren Mann“ betitelst, aber ich fürchte, da mein Geburtsdatum ja auch schon in einem anderen Jahrtausend liegt und ich beim letzten Mal so auf deinen vielen Wintern herumgeritten bin, habe ich das wohl verdient. Aber was deinen Vorschlag angeht, ist der doch ein gutes Schlusswort: Lehnen wir uns entspannt zurück und sehen wir, was die Zeit uns noch so an neuen visuellen Reizen bringt.

Flemming N. Feß

Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.

Gregor Greve

Nach verschiedenen Stationen an deutschen Museen hat es den gebürtigen Kieler ins Münsterland verschlagen. Neben der Betrachtung und Analyse guter Filme ist das Filmemachen eine seiner Leidenschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anglist und Medienwissenschaftler der Mann hinter der Kamera des kult-YouTube-Stars Rock McSock ist. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit dem Sammeln (und Spielen) von E-Gitarren, der Unterstützung seines Heimatvereins Holstein Kiel und Konzertbesuchen verschiedenster Stilrichtungen.

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