
Zwar gibt es schon seit September wieder Lebkuchen in den Supermärkten, aber so langsam schmecken Spekulatius und Co saisongemäß sogar wieder. Ein treffsicheres Indiz, dass die Adventszeit naht. Und obwohl natürlich die Dekoration offiziell erst nach Totensonntag angebracht werden darf, richten sich doch die ersten Gedanken auf das Weihnachtsfest aus.
Während also auch ich die ersten Zimtsterne des Jahres genieße, schweifen meine Gedanken dahin ab, wie einzigartig und zugleich untergründig skurril die Weihnachtskultur doch ist. Damit meine ich nicht die offensichtlichen Verschränkungen zwischen einem christlichen Fest, das auf ein ‚heidnisches‘ Wintersonnwendfest gelegt wurde, und einer weltlichen Geschenkeindustrie … Das ist ein alter Hut und dass Weihnachten (für die Christ:innen in Weihnachten feiernden Ländern) eine Doppelnatur hat, in der besinnlicher Kirchgang und Konsumorgie einmalig harmonieren, ist keine aufregende Entdeckung. Meine Gedanken gehen eher hin zu den Verstrickungen und Verwerfungen unserer Traditionen rund um die Adventszeit und das Weihnachtsfest selbst.
Mein Lieblingsbeispiel ist die Figur des „Gabenbringers“. Als Konkurrenz zur katholischen Figur des Heiligen Nikolaus wurde (angeblich von Martin Luther persönlich) das Christkind ins Spiel gebracht. Offensichtlich ist dieses Christkind aber nicht gleichzusetzen mit dem neugeborenen Jesuskind, um das sich das christliche Weihnachten schließlich dreht. Anderenfalls ist es doch schwer nachvollziehbar, warum das Christkind üblicherweise ein goldgelocktes, alters- und geschlechtsloses Kind im weißen Nachthemd ist … Noch viel spannender finde ich aber, dass dieses Christkind zwar ursprünglich eine protestantische Gegenfigur war, sich aber inzwischen schwerpunktmäßig in katholisch geprägten Regionen Deutschlands manifestiert hat, während in Ländern mit stärker evangelischer Tradition der Weihnachtsmann als Re-Import aus den englischsprachigen Ländern das Ruder übernommen hat – wiederum klar abgegrenzt vom ursprünglichen Nikolaus, der an seinem eigenen Feiertag am 6. Dezember nun eine Art ‚Mini-Vorweihnachten‘ veranstalten und Stiefel füllen darf. Ob dieser Weihnachtsmann in seiner weltlichen Aufmachung nun wiederum auf eine Werbefigur der Coca-Cola-Company zurückgeht, ist umstritten, zumindest eng verbunden ist er mit diesem Inbegriff von Markenkonsum aber auf jeden Fall. Wieder ein Indiz für den zweiten Teil der Weihnachtsnatur als Konsumfest. So oder so, es gibt in Deutschland also zwei Gabenbringer, die in traditionell gemischtkonfessionellen Regionen (wie Teilen von NRW) durchaus auch nebeneinander vorkommen. Schon ein wildes und spannendes Hin und Her und Durcheinander von Traditionen, finde ich. Und das ist kaum jemandem so richtig bewusst, wie ich festgestellt habe.
Aber auch die gelebte Struktur der Weihnachtszeit und des Festes selbst ist bei genauer Betrachtung doch höchst bemerkenswert. Weihnachten ist letztlich ein Fest des Immergleichen: Des Nachhausekommens, des Wiedertreffens mit Familie und alten Freunden – so jedenfalls wird es medial inszeniert und von vielen gelebt. Viele Familien haben ganz eigene feste Traditionen, essen jedes Jahr das Gleiche, schauen immer wieder die gleichen Filme, fahren an die gleichen Orte und haben eine feste Reihenfolge – ganz gemäß Loriots Familie Hoppenstedt: „Erst schauen wir uns die Weihnachtssendung im Ersten Programm an, dann packen wir die Geschenke aus und dann machen wir es uns gemütlich.“ Es ist ja gerade diese feste Struktur, die das Fest so besonders macht – diese Wiederholung vermittelt tief in uns ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Schließlich wissen wir ganz genau, was kommt und alles ist genau wie in unseren verklärten Erinnerungen an „früher“. Letztendlich nicht anders als bei Kleinkindern, die immer und immer wieder exakt dasselbe spielen wollen, weil sie in der Wiederholung Verlässlichkeit und Vertrauen erlernen. In einer solchen gesellschaftlichen Maschinerie des Wieder-und-wieder-Erlebens ist es ja nur ganz natürlich, dass sich auch untergründige Traditionen weitertragen, über Generationen vererbt und dabei leicht verändert werden, sich unbemerkt verselbstständigen und teils dabei sogar ihre Wurzeln verlassen. Das ist ja auch eine Form gelebter Traditionspflege, ein besonderes Stück Kultur. Das finde ich letztlich auch einen schönen Gedanken zum Start in den Advent – bei aller hintergründigen Traditionswanderung steigen wir wieder ein in die Geborgenheit des Kreislaufs des Immergleichen – bis hin dazu, dass Wham mit Last Christmas sicher auch in diesem Jahr die Charts stürmen wird.
Übringens: Wer mehr über Weihnachtstraditionen im Westmünsterland erfahren möchte: Im kult eröffnet in diesen Tagen die Kabinettausstellung "Advent, Advent".
Flemming N. Feß
Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.

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