Die Spucke im System

von Flemming N. Feß

Kultur und Leben   Museum und Forschen

Morgens, wenn der Wecker klingelt und einen aus schönen Träumen in den Alltag zurückholt – selbstverständlich immer vor der natürlichen Aufstehzeit – denkt sich wohl jeder irgendwann mal „Warum mache ich diesen Sch**ß eigentlich?“ Ich glaube, das ist völlig unabhängig davon, ob man seinen Job gerne macht oder nicht und auch, ob man ihn als sinnvoll empfindet oder nicht. Sogar Menschen, die sich die Frage der Sinnhaftigkeit gar nicht stellen müssen, weil sie in ihrem Beruf jeden Tag Leben retten, sind vermutlich ab und zu weniger motiviert, den Gang zur Arbeit anzutreten – und sei es eben nur, weil er zu persönlichen Unzeiten ansteht. Wie viel trauriger muss es dann bei den armen Arbeitnehmer:innen aussehen, deren Antwort auf diese Frage nichts als der schnöde Mammon ist und die nur wenig bis keinen tieferen Sinn in ihrem erwerbsmäßigen Tun erkennen können?

Aber wie steht es denn um den Sinn von Kultur? Gerade jetzt, in der Zeit einer drohenden dramatischen Energie-Krise steht die Kultur wieder unter Rechtfertigungsdruck: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat beispielsweise vergangene Woche eine Pressemitteilung herausgegeben, die insbesondere in der Kultursparte Einsparungspotentiale sieht. Schon während der Corona-Pandemie war die Frage, ob Kultur nun „systemrelevant“ sei, ein heißes Eisen. In dieser Diskussion der vergangenen Jahre fand ich die Formulierung spannend: systemrelevant. Um welches System geht es denn da? Unser Ökosystem? Unser Soziales System? Oder unseren eigenen biologischen Organismus? Egal, wie man es definiert, für das akute Funktionieren in einer Ausnahmesituation, das hat die Pandemie uns tragischerweise gezeigt, ist Kultur zu vernachlässigen. Da geht es darum, ob noch Strom und Wasser aus den Leitungen kommen und Essen auf den Tisch. Keine Frage, Kultureinrichtungen sind dann ein Luxus, den sich die Gesellschaft leistet. Denn ohne öffentliche Subventionierung hielten sich fast kein Museum, fast kein Theater und auch wenig Veranstaltungen. Wenn es wirklich ans Eingemachte geht, dann ist es nur natürlich, erst am Luxus und dann an den Basics zu sparen. Selbstverständlich müssen erst die Lebensmittellieferketten, die Strom-, Wärme und Wasserversorgung, die Krankenhäuser und Schulen abgesichert sein. Und natürlich kosten die Kultureinrichtungen nicht nur Geld, sondern auch Energie – sonst wäre ja in der Gaskrise nicht schon wieder die Rede davon, an der Kultur einzusparen. Und auch wenn viele Kultureinrichtungen sehr effizient arbeiten muss man sich eingestehen: die sparsamste Kulturarbeit ist keine Kulturarbeit.

Aber ist es wirklich nur Luxus? Wenn dem so wäre, wäre jede öffentliche Kulturarbeit und –finanzierung eine Verschwendung von Steuergeldern. Zum Leben gehört ja aber mehr als nur das blanke Überleben. Als Menschen leben wir in komplexen sozialen Strukturen, in einer Gesellschaft. Diese Gesellschaften sind notwendig, denn als soziale – und als denkende – Wesen brauchen wir Menschen soziales Miteinander. Und hier kommt wieder die Kultur (oder besser: die Kulturen) ins Spiel. Sie ist die Spucke, die dieses Getriebe zusammenhält und ölt, die das Funktionieren des Sozialen Gefüges ermöglicht, die kollektive Identitäten schafft, Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle, die geistiges Futter bietet und intellektuelles, soziales und emotionales Wachsen ermöglicht. Das klingt jetzt furchtbar hochgestochen, ist aber eigentlich ganz einfach: Leben ist mehr als Überleben. Es gibt auch ein geistiges „Verhungern“, Vereinsamen und Verkümmern. Kultur ist die Komponente, die aus Überleben Leben macht und das Leben lebenswert.

Natürlich geht im Zweifel Überleben über Leben (bzw. Lebensqualität). An dieser Stelle (und nach so vielen Wortwiederholungen) kommt man um den Kalauer nicht mehr herum zu sagen: Deshalb heißt es ja ÜBERleben. Aber auch ohne derartig unwürdige Schenkelklopfer leuchtet die Sache ein: Tot nützt die höchste Lebensqualität nichts mehr. Aber die Erfüllung der körperlichen Grundfunktionen allein macht eben auf der anderen Seite auch nicht zufrieden. Ohne Schmieröl läuft das gesellschaftliche System nicht mehr gut, rostet ein und geht kaputt. Deshalb ist es eben kein dekadenter und verschwenderischer Luxus, sondern durchaus irgendwie „systemrelevant“, zumindest im Dauerbetrieb. Denn wir sind eben mehr als Tiere, die von den Bäumen runtergeklettert sind und unser Fell gegen Feuer getauscht haben. Und damit unser Zusammenleben funktioniert, braucht es eine lebendige Kultur. In Kultur zu investieren ist also durchaus auch existenziell. Maßvoll zu schauen, wo man sparen kann, ist vorausschauend und notwendig. Den Stecker einfach zu ziehen, wäre langfristig unverantwortlich. Zum Glück wissen das die meisten Menschen – jedenfalls die, die auch mental aus den Bäumen herausgekommen sind.

„Wir sind die Spucke, die es zusammenhält“, ist also manchmal die Antwort, die ich mir als ‚Kulturarbeiter‘ gebe, wenn mich wiedermal der Wecker morgens tyrannisiert. Das ist vielleicht nicht die allerappetitlichste Metapher, aber es hilft schon sehr, sich doch nicht einfach nochmal umzudrehen. Wer will schon schuld sein, wenn die Gesellschaft einrostet?

Flemming N. Feß

Flemming N. Feß ist auf seinem Lebensweg schon weit in Deutschland herumgekommen. Im kult Westmünsterland ist er als Kurator für Sonderausstellungen zuständig. Den gebürtigen Schleswig-Holsteiner begeistert alles, was eine spannende Geschichte erzählt. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt im Kino – oder mit einem guten Buch. Wenn er sich aber nicht gerade in ferne Welten entführen lässt, erkundet der Medienwissenschaftler und Historiker gerne in guter Gesellschaft unterschiedlichste Craftbeer-Stile. Als Liebhaber von Puppentrick ist er zudem die Hand und Stimme hinter der Sockenpuppe Rock McSock.

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